Singen im Todesstreifen
Zu Ute Heims >>Take me back to my boots and my saddle, Vol. 1 & 2<<, 2011

Reisen ist der Versuch die Vergangenheit zu verstehen. Diese Reise ist Bewegung im Grenzland, vorwärts und rückwärts gleichzeitig. Ute Heim fährt immer weiter an den Ort ihrer Kindheitserinnerungen zurück. Sie nähert sich damit jedoch nicht nur den Momenten ihrer eigenen Biographie an, sondern auch deutsch-deutscher Zeitgeschichte. Vehikel für Ute Heims Reise sind das Prinzip der Improvisation, die Ästhetik des Western und Franz Schuberts >>Winterreise<<.

Für >>Take me back to my boots and my saddle, Vol. 1 & 2<< hat sich Ute Heim mit dem Fahrrad auf den Weg gemacht und ist in 12 Tagen von München nach Einödhausen gefahren. Immer wieder hat sie halt gemacht und spontan inszenierte Aufnahmen von Liedern aus der Winterreise durchgeführt. Der Ort Einödhausen liegt jenseits der früheren deutsch-deutschen Grenze in Thüringen. Im Nachbarort wohnte Ute Heims Großmutter, bei der sie als Kind und Jugendliche zeitweise lebte.

Ute Heims Arbeit ist eine Installation, die sich aus zwei gegenüber liegenden Projektionen zusammensetzt. Wie auch Schuberts >>Winterreise<< (1827) ist der Zyklus in zwei Abteilungen mit jeweils zwölf Liedern, die hintereinander laufen, arrangiert. Im ersten Teil sieht man die Künstlerin in Strohhut, rotem Sommerkleid und Wanderschuhen bekleidet, im zweiten Teil in Pelzmütze, einem silber-grauen Kleid und Perlenkette. Die Orte und Situationen unterscheiden sich voneinander, sind mit Bezug zu den Texten von Wilhelm Müller assoziativ gewählt.

Musikalische Interpretation und Improvisation sind wesentliche Merkmale für das Schaffen Ute Heims und zeigen sich bereits in früheren Arbeiten als wichtiges Arbeitsprinzip. Sie spielt mehrere Instrumente und singt, zusätzlich verfügt sie als gelernte Geigenbauerin über umfassendes Praxiswissen im Umgang mit Musik, das sie für ihre künstlerische Praxis einsetzt. Nach dem Prinzip der Improvisation reagiert die Künstlerin auf Situationen und erspürt Orte. Durch diese Vorgehensweise gelingt es ihr in emotionale Räume einzudringen, die sonst verschlossen blieben. Das Format Aufführung und die damit verbundenen Erwartungen der Betrachter schafft dabei eine Spannung, die, ebenso wie die Reibung zwischen klassischer Musikkultur und Populärkultur, Grundlage ihrer Auseinandersetzung sind.

Der Aneignung des Bildrepertoires des Westerns begegnete man in Ute Heims Arbeiten bereits in der Vergangenheit. An den Geschichten, die den Gründungsmythos Amerikas weltweit in Bild und Ton vermittelten, interessieren Ute Heim vor allem die existentiellen menschlichen Konflikte, die von der Sehnsucht nach Freiheit und deren Unmöglichkeit erzählen. Denn das Genre wirft, trotz der oft scherenschnittartigen Anlage der Figuren und der wenig flexiblen Erzählung eine Vielzahl von fundamentalen Fragen auf. Geht es doch immer um das gewaltsame Aufeinanderprallen konträrer Ideologien: die alte Welt und der Fortschritt, Natur und Zivilisation, Freiheit und Staat, Gut und Böse. Eingebettet in den Topos der Reise, ist zudem die Konfrontation des eigenen Ichs in der Fremde ein Leitmotiv. Im >>Frontier Land<< begegnet der Cowboy seinem Alter Ego, dem skrupellosen Schurken. Letztlich ist der Cowboy jedoch eine tragische Figur, da er zwar im Dienste der Neuen Welt steht, jedoch eigentlich nur in der Alten Welt existieren kann. Diese aber zerstört der Cowboy, weshalb er gezwungen ist in immer weitere Grenzgebiete vorzudringen.

Durch diese ideologische Grundstruktur des Westerns sind seine Themen in besonderem Maß im Amerika des 19.Jahrhunderts und damit mit in den fundamentalen Umbrüchen jener Zeit verankert. Aber es lassen sich durchaus Parallelen zu den Leitmotiven der Deutschen Romantik bzw. zu Franz Schuberts (1797 – 1828) >>Winterreise<< ziehen: so thematisieren die vierundzwanzig wahrscheinlich bekanntesten Kunstlieder überhaupt bereits seit Generationen existenziellen Schmerz und das Getriebensein eines Einsamen und Heimatlosen. Das in den Texten von Wilhelm Müller (1794 – 1827) angelegte Motiv des Wanderns ist als fundamentale, grenzenlose Sehnsucht beschrieben, die letztlich kein Ankommen vorsieht. Von der Zuversicht der Vorromantik, die die Reise noch als Aufbruch in eine >>blaue Ferne<< und damit als Hoffnung auf eine bessere Welt versteht, ist hier nichts mehr zu spüren. Und so laden die eingängigen, an Volksweisen angelehnten Melodien Schuberts nicht ein, sich in ihnen zuhause zu fühlen. Eingebettet ins Naive des Volkslieds vermittelt sich hier vielmehr das Grundgefühl der Moderne, nämlich ein Gefühl des Unbehaustseins in einer erkalteten Welt (von Borries). Davon ausgehend betonen neuere Deutungen des romantischen Klassikers die bisher vernachlässigte politische Dimension der >>Winterreise<<, die auch für Ute Heims Arbeit wichtige Verweise eröffnen. Die Texte Müllers werden hier als politische Lieddichtung begriffen, in der er seine von den Fürsten enttäuschte und verratene Vaterlandsliebe, d.h. die Hoffnung auf Freiheit, Liberalismus und Nationalstaat, verarbeitet. „Die Winterreise ist auch ein Dokument der Trauer, der Dichter hat es für sich und alle Befreiungskrieger gefertigt, um die Erinnerungen an die Versprechen von Freiheit und Heimat in einem Nationalstaat wachzuhalten, um die sie betrogen wurden.“ (von Borries). Schuberts Motiv des Winters wird als Metapher für Stillstand und die Repressionen unter der reaktionären Restaurationszeit unter Metternich verstanden. Kälte und Frost werden hier zur Analogie des gesellschaftlichen Klimas, das alle emanzipatorischen Kräfte der Zeit gelähmt hatte. Elfriede Jelinek beschreibt Schubert als Komponisten des brüchigen Bodens „diese Komponisten des brüchigen Bodens, den sie doch immer wieder beschwören – es ist der sogenannte Heimatboden, der brüchigste von allen also, weil natürlich jeder ausgerechnet von ihm Tragfähigkeit erwartet – schreiben über das, worauf sie gewachsen sind, um sich zu vergewissern, überhaupt da zu sein, und dabei fällt es ihnen unter den Füßen ins Nichts“.

Wenn sich also Ute Heim mit dem Fahrrad von West nach Ost aufmacht, eben an die Grenze, an der sich die ideologischen Konflikte des 20.Jahrhunderts manifestierten, dann schwingt durch die Melodien der >>Winterreise<< auch die Geschichte des Kalten Krieges mit. Denn auch bei Ute Heim ist es eine Reise in ein frostiges Klima. Die Konstellation der Referenzen weckt die Erinnerungen an diejenige Kälte, die in den 50er Jahren die Grenzen der Demarkationslinie verhärten lässt, bis sie 1961 zu einer scharf gesicherten Staats- und Ideologiegrenze wurde. Es erinnert an die Zeit, an der die Grenze zwischen Ost- und Westdeutschland vermint wurde, Selbstschußanlagen errichtet wurden und >>unzuverlässige Elemente<< aus dem 5-km Streifen um die Grenze zwangsumgesiedelt wurden. Die Lähmung des Kalten Krieges dauerte an, bis 1989/90 das SED-Regime (ausgelöst durch die reformerische Politik Gorbatschows) kollabierte und die Wiedervereinigung ermöglichte. Denkt man die politische Kritik, die in der >>Winterreise<< verdeckt formuliert ist, im Zusammenhang bis zur friedlichen Revolution Deutschlands von 1989/90, wird die Wiedervereinigung rund 140 Jahre später zu einer Realisierung der politischen Ideen eines Müllers oder Schuberts. Ganz in diesem Sinne kontextualisiert beispielsweise Prof. Rödder in einem Vortrag die friedliche Revolution Deutschlands von 1989/90 mit der Geschichte des 19.Jahrhunderts: „Die Ziele der Bürgerbewegung der DDR 1989 wurzeln tief in der bürgerlich-liberalen Bewegung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Volkssouveränität, Freiheit und nationale Einheit waren ihre Ziele. 1848/49 war der erste revolutionäre Anlauf gescheitert.“

Doch selbst wenn die politischen Ideale mehrer Generationen nun Realität geworden zu sein scheinen, zeigt Ute Heims Videoarbeit auch Schattenseiten. Das Dorf an der Grenze wirkt trostlos und verlassen und es ist deutlich erkennbar, dass die Politik der Grenze, ebenso wie ihre Auflösung, Spuren hinterlassen hat. Abwanderung und hohe Arbeitslosigkeit zeigen, dass der Wandel von sozialistischer Planwirtschaft hin zu einer postmodernen, pluralisierten Marktwirtschaft und Dynamik der Globalisierung nicht ohne weiteres funktioniert. Als die Künstlerin in einem ihrer letzten Stücke >>Das Wirtshaus<< auf einem Hochstand sitzt und singt, nimmt ihr Spiel unheimliche Züge an. Das Vertraute wird fremd. Die Naivität, mit der ihre Reise anfangs begonnen hat, ist verflogen und entpuppt sich – je tiefer sie an die Grenze ihrer Reise und damit in die Zone des Todesstreifens kommt – als ein entrücktes Ritual, durch das sie mit ihrer Stimme zu einer vergangenen persönlichen aber auch gesellschaftlichen Geschichte und deren Schmerzpunkte vordringt.

Anna Schneider

Auszug aus:
Ute Heim: Ramblin. München, 2011

Literatur:
Elfriede Jelinek: Die Winterreise. Hamburg, 2011
Frieder Reininghaus: Schubert und das Wirtshaus, Musik unter Metternich. Berlin, 1979
Jürgen Ritter und Peter Joachim Lapp: Die Grenze, ein deutsches Bauwerk. Berlin, 2006
Andreas Rödder: Die deutsche Revolution 1989/90. München, 2009
Erika von Borries: Wilhelm Müller, der Dichter der Winterreise, eine Biographie. München, 2007


Singing in No Man's Land
On Ute Heim's >>Take me back to my boots and my saddle, Vol. 1 & 2<<, 2011

Embarking on a journey is an attempt to understand the past. This particular journey involves travel through borderlands, simultaneously moving forward and back. Returning again and again to the place of her childhood memories, Ute Heim more closely approaches moments both in her own biography and in contemporary German-German history. Her journey is driven by the principle of improvisation, the aesthetics of the Western and Franz Schubert's >>Winterreise<< (Winter Journey).

For >>Take me back to my boots and my saddle, Vol. 1 & 2<<, Ute Heim cycled from Munich to Einödhausen in twelve days, making repeated stops en route for spontaneous performances of Lieder from the Winterreise cycle. The village of Einödhausen lies in Thuringia, on the other side of the former border between West and East Germany. The neighbouring village was once the home of Ute Heim's grandmother, with whom she lived for periods during her childhood and youth.

Ute Heim's work is an installation composed of two facing projections. Like Schubert's >>Winterreise<< (1827) the cycle has a two-part structure, each part comprising twelve consecutive Lieder. In the first part the artist is shown wearing a straw hat, red summer dress and hiking boots; in the second, a fur hat, silver-grey dress and bead necklace. The places and situations vary and are selected for their associations with the lyrics of the song cycle by Wilhelm Müller.

Musical interpretation and improvisation are key aspects of Ute Heim's creative output, and have already been established as a central operating working principle from her earlier works. In addition to playing several instruments and singing, she is a trained violin-maker and has extensive practical musical expertise which she employs in her art. The artist uses improvisation as a method of responding to situations and tracing the essence of places - a process that enables her to penetrate into emotional spaces which would otherwise remain closed. The use of performance as an artistic form and the expectations which it awakens in the audience create a suspense which, like the discord between the culture of classical music and popular culture, form the basis of her examination of the theme.

In earlier works, Ute Heim had already acquired a repertoire of imagery derived from Westerns, those stories that spread the myth of the foundation of America throughout the world in sound and vision. Ute Heim's primary interest is directed at their portrayal of existential human conflicts which speak of both the longing for freedom and its impossibility. For despite the often two-dimensional nature of the figures and the constrictions of the plots, the genre throws up a host of fundamental questions. It perpetually focuses on the violent clash between contrary ideologies: the old world and progress, nature and civilisation, freedom and the state, good and evil. A further aspect integrated into the topos of the journey is the leitmotif of characters forced to confront their own personalities while far from home. In >>Frontier Land<< the cowboy encounters his own alter ego - an unscrupulous desperado. But the cowboy is ultimately a tragic figure. Although in the service of the New World, he can only exist in the Old World - and yet this destroys him and forces him to press on into ever more distant borderlands.

This ideological foundation of the Western roots the themes of the genre particularly in the America of the 19th century, and thus in an age of fundamental upheaval. However, parallels can be drawn to the leitmotifs of German Romanticism and to Franz Schubert's (1797 – 1828) >>Winterreise<<; probably the 24 best-known Kunstlieder of all time, these works convey the themes of existential pain and the driven nature of an isolated individual without a home. The theme of the wanderer addressed in the lyrics of Wilhelm Müller (1794 – 1827) is described as an elemental, boundless longing in which arrival is never envisaged. It contains no hint of the optimism radiated by pre-Romanticism, in which travel is perceived as a departure into a >>wide blue yonder<< and thus as hope of a better world. And thus Schubert's captivating melodies derived from folk songs do not invite the listener to feel at home. Instead, what is communicated here, encapsulated in the naivety of folk song, is an inherent tenor of modernity - the feeling of being without a home in a world grown cold (von Borries). Taking this as a starting-point, more modern interpretations of the classic Romantic work, which also provide important references for Ute Heim's project, highlight the previously neglected political dimension of the >>Winterreise<<. Müller's poems are perceived here as political song-poems in which he addresses his love of his fatherland, in other words his hopes of freedom, liberalism and a nation-state, blighted and betrayed by the ruling princes. ">>Die Winterreise<< is also a chronicle of grief, drawn up by the poet for himself and for all fighters for liberation as a way of keeping alive their memories of the promises of freedom and home in a nation-state which they were fraudulently denied" (von Borries). Schubert's motif of winter is perceived as a metaphor of statis and repression under Metternich's reactionary Restoration period. Cold and frost serve as an analogy of the social climate of the time, which had paralysed all emancipatory forces. Elfriede Jelinek describes Schubert as a composer on fragile ground, 'these composers on fragile ground which they ceaselessly evoke - it is the 'ground of home', the most fragile of them all because everyone naturally expects that it, of all things, will bear their weight - these composers write about the ground upon which they grew up in order to convince themselves that they are actually there, while all the time it plunges into nothingness beneath their feet."

When Ute Heim sets off to cycle from west to east, to the border along which the ideological conflicts of the 20th century were manifested, the history of the Cold War resonates along with her journey in the form of the melodies of >>Die Winterreise<<. Ute Heim's journey, too, is bound for a frosty climate. The aggregation of references awakens memories of that cold which froze the boundaries of the demarcation line in the 1950s until it solidified into a heavily fortified border between nations and ideologies in 1961. It awakens memories of a time when the border between East and West Germany was planted with mines and fringed with automatic firing systems, and when any >>undesirable elements<< living in the 5-km strip along the border were forcibly rehoused. The torpor of the Cold War lasted until the collapse of the SED regime in 1989/90 (triggered by Gorbachev's political reforms), and paved the way for reunification. When we place the veiled political criticism of >>Winterreise<< in a context extending up to Germany's peaceful revolution of 1989/90, the country's reunification around 140 years after the song cycle is transformed into the final realisation of the political ideas of a Müller or a Schubert. Echoing this view, Prof. Rödder is one who contextualises Germany's peaceful revolution of 1989/90 in 19th-century history, stating in a lecture, "The aims of the citizens' movement of the German Democratic Republic in 1989 are deeply rooted in the bourgeois liberal movement of 19th-century Germany, with its goals of sovereignty of the people, freedom and national unity. The first attempt at revolution, in 1848/49, had failed."

But even if the political ideals upheld by many generations are become reality, a dark side becomes apparent in Ute Heim's video works. The village on the border appears grim and deserted, and the marks left by the border policies and the dissolution of the border are clearly visible. Migration and high unemployment show that the transformation from a Socialist planned economy to a post-modern pluralist market economy and dynamic globalisation is not an automatic process. In one of Ute Heim's most recent works, >>Das Wirtshaus<< (The Inn), where the artist sits on a hunter's raised blind and sings, her actions take on an eerie note. The familiar becomes alien. The naivety with which she began her journey has faded, revealing itself - the closer she gets to the ultimate frontier of her journey, and thus to No Man's Land, the 'death strip' itself - to be a ritual far removed from reality, in which she attempts to use her voice to explore a long-vanished history both personal and societal and the pain points it contains.

Anna Schneider

Excerpt from:
Ute Heim: Ramblin. Munich, 2011

Literature:
Elfriede Jelinek: Die Winterreise. Hamburg, 2011
Frieder Reininghaus: Schubert und das Wirtshaus, Musik unter Metternich. Berlin, 1979
Jürgen Ritter and Peter Joachim Lapp: Die Grenze, ein deutsches Bauwerk. Berlin, 2006
Andreas Rödder: Die deutsche Revolution 1989/90. Munich, 2009
Erika von Borries: Wilhelm Müller, der Dichter der Winterreise, eine Biographie. Munich, 2007